Geschichten
Der Schlafanzug
Als er gegangen war, hatte sie das Bettzeug auf seiner Seite nicht abgezogen. Jede Nacht legte sie sich in seinem Schlafanzug in sein Bett, der letzte Schlafanzug, den er angehabt hatte. Und er roch immer noch wunderbar nach ihm. Ein bißchen männlich, ein bißchen muffelig. Wenn er warm wurde, roch er noch stärker.
Wenn sie nachts mal zur Toilette ging, mußte sie die Hosenbeine hochziehen, halten, um nicht zu fallen. Wenn sie dann wieder in sein Bett kroch, war es am besten, dann war die verschlafene Wärme, die noch unter der Decke war, seine und sie grub sich ganz in sie ein.
Sie machte die Tür auf und wußte schon, daß er es war. Keiner sonst klingelte so, als hätte es davor schon ein Klingeln gegeben, das sie überhört hatte. Sie hielt die Tür fest und er sagte: Ich wollte dir das Buch zurückgeben und meinen Schlafanzug holen, der muß noch bei dir sein. Weißt, der warme, der karierte.
Sie sagte: keine Ahnung. Aber bei mir ist er jedenfalls nicht. Nahm das Buch und machte die Tür zu.
Der Frosch
Im Märchen ist es immer so: Drei Prüfungen muß man bestehen. Dreimal hört sie die Stimme. Sie wirft den Frosch an die Wand und schon kommt er als Prinz wieder runter. Und bleibt bei ihr. Und sie leben glücklich und froh miteinander. Und wenn sie nicht gestorben sind …
Wenn sie aber den Frosch gesucht hat, nicht unglücklicherweise falsch gefunden, wenn sie ihn sich auch noch gesucht hat, unbeirrt. Und hockt neben ihm, am Tisch, jahrelang. Und lächelt ihn an, damit er nicht merken muß, daß er der Frosch ist. Und bleibt.
Die Kröte
Der Mann warf die Frau vor den Augen der erschrockenen Kinder an die Wand und als sie wieder runterkam, starrten sie alle mit aufgerissenen Augen an. Und sie sah an sich herunter und sah, daß sie eine Kröte geworden war. Eine häßliche braune, dicke Kröte. Sie stürzte an den schreienden Kindern vorbei zum Spiegel, die braune Haut hing ihr im Gesicht in schlappen warzigen Falten und darunter pulste der Halssack als wäre darin ein Herz.
Der Salzstreuer
Sie hat immer diese Krallen, lang und hochrot glänzend. Ihre Hände sind schmal und schön. Die Haare hat sie ganz kurz und hell, fast weiß gefärbt. Der Mund ist hochrot glänzend, die Härchen im Gesicht hell und pudrig auf der gebräunten Haut. Sie ist eine große, schöne Frau.
Wir haben bestellt. Wir haben uns erzählt. Wir sind für einen Moment still. Sie nimmt den Salzstreuer. Der Salzstreuer ist aus Glas, geriffeltem Glas und der silberne Deckel glänzt über ihrer Hand. Sie hat den Salzstreuer ganz leicht zwischen Daumen und zwei Fingern. Sie hat immer diese Krallen, lang und hochrot glänzend. Streift sie den Salzstreuer runter, hält ihn kurz, zwischen Daumen und zwei Fingern, ganz unten und streift ihn wieder hoch, bis unter den Deckel. Hält ihn kurz und geht ganz langsam wieder an ihm runter. Wenn ich das mache, im Lokal, sagt sie, wird er völlig verrückt.
Der Auftrag
Ungefähr 3000 wollte sie drucken, vielleicht würdens auch 5000 werden, wenn sie schon mal dabei war. Der Junge im Copy Shop – er sah dann von nahem doch etwas älter aus als ganz jung, das war die Base Cap! – machte sich an die Arbeit, gab von seinem PC aus, zu dem sie die Vorlagen geschickt hatte, den Druckauftrag an den Kopierer, legte die stärkeren Blätter ein, weiß. Er rechnete, 3000 Karten, das waren wieviel Blatt? und gab ein, was er gerechnet hatte und druckte los bzw. das Gerät und machte sich am Schneidetisch Platz und Übersicht.
Gedichte also, sagte er und: das wird seine Zeit dauern. Das wußte sie wohl auch und lehnte sich ans nächste Kopiergerät und schaute zu, wie er den ersten Satz bedruckter Bögen zu Streifen schnitt, wie er die Streifen wieder einlegte und querschnitt. Das machte er gut, das sah sie gleich. Ruhig und genau. Die kleinen Stapel Kärtchen, die dabei herauskamen, legte er ihr vorsichtig in die Hand und sie legte sie in einen leeren Papierkarton. Stäpelchen um Stäpelchen. Hin und wieder las er eins der Gedichte vor, als ob sie es nicht kannte – waren sie doch aus ihr gekommen und wie stürmisch die letzten Wochen, als wollten sie alle hier noch dabeisein und nicht zu spät erst auftauchen. Manchmal zögerte er mit einem in der Hand, manchmal lachte er kurz auf und legte es wieder zu den anderen. Das würde dauern, er wußte es, sie wußte es. Die Leute, die in den Laden kamen, wußten es nicht.
Mit unsicheren oder mit eiligen, ganz geschäftigen Gesichtern, mit unfreundlichen auch kamen sie in den Laden. Die, die sich auskannten, begaben sich gleich an ihr gewohntes Gerät – kann ich da dran? die anderen hielten ein Blatt hin oder zwei, ein Zeugnis, ein Dokument, Wichtiges auf jeden Fall und fragten zögerlich: Kann ich eine Kopie davon haben?, taten sehr vorsichtig damit, als wäre das Gerät ein perverser Schredderer, der sich nur harmlos und kopierwillig gab und kaum hätte er ihr Blatt eingelegt, es einziehen und häckseln würde.
Diese erwarteten Hilfe und Beistand. Ein paarmal unterbrach er also, half so schnell er konnte, halbwillig, das sah sie schon, viertelswillig wurde es, je mehr sie ins Reden kamen, wenn der Laden wieder leer war. Er legte ein und zurecht und schnitt und zwischen den Schnitten las er immer mal eins und sagte: sie sehen nach wenig aus, eigentlich. Sie sagte: man möchts nicht meinen, wenn man sie so sieht. Er drückte ihr den nächsten kleinen Stapel in die Hand. Sie können alles, was sie wollen, sagte sie. Und mit einem Wort, wenns drauf ankommt, sagte sie. Sich auf kleinstem Raum drehen, in eine andere Richtung. Ja, sagte er, sie haben alles bei sich, was sie brauchen.
Sie arbeiteten ruhig und kamen langsam voran. Aber er war in einem guten Rhythmus, sie paßte sich dem an. Holte einen neuen Karton her und fing den zu füllen an. Sie redeten mal und mal nicht, über dies und das und bald waren sie beim Leben und was sie davon hielten und schon abbekommen hatten. Und sahen wie ein Kopf unwirsch zur Tür, wenn wieder jemand eindringen wollte in den Schneideraum, das unsichtbare ZUTRITT VERBOTEN mißachtend, alle Abwehrblicke ignorierend aus der Tiefe des Raumes, in dem etwas am Werden war, das mehr sein würde als ein paar hundert oder tausend Karten. Soviel wußten sie da schon, ohne es zu wissen, sagt sie heute, wenn sie auf diese Nacht zurückblickt und was sie da trieben.
Sie bekam langsam Hunger, ich auch, sagte er, und sie machte sich auf, im benachbarten Wienerwald irgendwas kleines Fütterbares zu holen, keinesfalls konnte man seine Hände von der Schneidemaschine abziehen, fettig werden lassen. Hühnercrossies stellte sie sich vor im Rüberlaufen, eine brandscharfe Soße, Pommes, zwei Bier. Was sie mitbrachte, nannte sich Chicken Pop Corn Box, die Soße war brandscharf, Pommes dabei, aus seiner Flasche trank er selber, nebenher. Ging die Tür wieder einmal auf, schauten sie erstaunt, wer es denn wagte, jetzt noch! Farbkopien? das würde aber dauernd, unabsehbar lange, hier dieser Auftrag, den man nicht unterbrechen konnte, so in zwei, drei Stunden, gegen Abend? noch einmal vorbeischauen, das könnte man gerne. Eine Broschüre? das war natürlich heute nicht mehr anzugehen, zu schaffen keinesfalls, bei aller Freundschaft nicht und langem Kundentum, da würden 30 Jahre Ladentreue ja nicht reichen. Er übertrieb etwas, fand sie, aber sie ließ ihn das erledigen, die Tür schloß sich wieder. Zu dem nächsten Kunden sagte er knapp: Heute geht gar nichts mehr, wir haben hier ein größeres Ding.
Sie waren eine Arbeitseinheit geworden, sie hatten eine gewaltige Sache hinzukriegen, das spürten sie mehr und mehr, die zweite Kiste füllte sich gerade mit den kleinen Stapeln, die nächste kam herbei. Sie hatten eine Mission, könnte man sagen, nach dieser Nacht würde die Stadt nicht mehr die alte sein.
Er war stillschweigend ihr junger Krieger geworden, der sich ihr angeschlossen hatte, mit seinem ganzen Können. Und lieferte er nicht feinstes Material für die bevorstehende Schlacht, die Idee hatte ihre Fahne beflattert, jetzt rauschte sie im Wind und wie.
Es war gegen sechs, Ladenschluß, als er sagte: was sind 3000, was sind 5000. Er ging an den PC und er überschlug die Vorräte an Blättern im Regal. Aber weiß, sagte sie, sie sollen weiß wie Schnee herunterkommen, feste Flocken, die fallen, still in der Nacht, aber unaufhaltsam. Anfangende Freude fühlte sie, als wären sie schon liegengeblieben, beleuchtet von den Laternen der schlafenden Stadt.
Ja, sagte er, wenn das weiße Papier alle ist, hören wir auf. Und schaute sie mit fröhlicher Entschlossenheit an, als hätte ihn, ja, irgendwie der Ausdruck, den aussichtslos Liebende haben können, glückliche Verrückte. Als hätte ihn eine wunderbare Krankheit erwischt, mit Todesfolge und er wolle nichts dagegen unternehmen, gar nichts. Er druckte, er schnitt, sie stapelte.
Der Copy Shop strahlt sicher wie ein kleines Schiff, dachte sie mal gegen später schon. Ein Schiff, am Rand des dunklen, verlassenen Marktplatzes gestrandet, aber festlich und übermütig illuminiert, feiert es die Nacht des Schiffbruchs. Sie blickte voll Stolz auf ihn, wie er das große Messer des Schneideapparates kraftvoll durchdrückte, als hätte er nie wieder anderes vor als dies heilige Tun zu Lob und Ehre der Poesie.
Der Kämpfer an ihrer Seite, men at work – sie war fast gerührt, wie entschlossen er dabei war, keine Fragen, keine Zweifel. Die Base Cap lag längst irgendwo abgeworfen, mit dem rasierten Kopf sah er aus wie Evey im Untergrund, in V wie Vendetta, als sie keine Furcht mehr kannte.
Gegen zwei holte er seinen Rucksack aus dem hinteren Raum, sie füllten ihn prall voll mit den Kärtchen wie ihren Rucksack auch, ihre Umhängetasche, eine Kiste nahm er unter den Arm, die zweite schob sie ihm unter den anderen, machte ihm die Jacke zu. In der Not nahmen sie auch noch die 2 Plastiktüten dazu, die er gefunden hatte – was die Hosentaschen, Jacken aufnahmen, war auch nicht wenig. Jedes eine war eins mehr, dachte sie beim Reinstopfen und: sie werden gleich rausrieseln aus uns, wie die Steinchen. Wie Hänsel und Gretel im Wald würden sie eine Spur machen. Sie schlossen den Copy Shop zu und zogen leise los, in eine Stadt, die dachte, daß ihr nichts fehlte.
Friseurgeschichten
Ohren, Haare …
Er war vielleicht siebzehn und Lehrling in einem Friseurladen, der in einem Wohnblockviertel ganz in der Nähe war und Happy Hair hieß, bevor es dann üblich wurde, Friseurläden Haarwerk, Haarspielerei, Haarschneiderei zu nennen, HaarOase, Kaiserschnitt (in Berlin) – beruhigend, daß es nach wie vor den Friseursalon Gisela gibt und Top Hair Gaby (Wagnerstr.19). Er nannte seinen eigenen Laden dann Haarmonie. Jens Haarmonie sogar, weil er vorne wohl Jens heißt, wie weiter wußte ich noch nie. Manchmal sprechen ihn ältere Kundinnen ganz folgerichtig also mit Herr Haarmonie an.
Über den Happy Hair-Laden wäre an sich nicht viel zu berichten, wäre der Lehrling nicht gewesen. Einmal, als ich zum Schneiden, Föhnen da war, ohne Föhnen, ich nehme immer nur Schneiden (Legen auch nicht), steckte er in einem Oberteil, könnte man sagen, ein Spinnennetz aus schwarzer Wolle und Luftmaschen und ohne Stoff darunter, also keine blickdichte Unterschicht, nur schwarzhaarige Wollfäden mit Luftmaschen ziemlich naturgetreu spinnwebenverwebt, das Netz ging um den ganzen Oberkörper herum, die Arme waren frei und hinten auf dem Rücken hockte eine handtellergroße Spinne in dem Netz, gehäkelt auch sie, schwarz und wollhaarig. Ich war, solange er mir die Haare schnitt, mit der Betrachtung dieses um mich herumgetragenen Teils so beschäftigt, daß ich jedes Angebot von Illustrierten ablehnte. Auf die Frage, ob er das selber? erzählte er mir, daß seine Mutter ihm das Teil gehäkelt habe. Ich nehme aber an, nach seinem Entwurf. (Aber wer weiß, Mütter. Wozu sie fähig sind.)
Der Laden verlor mich dann als Kundin. Ein anderer Lehrling hat dem Kind, noch recht klein, beim Haareschneiden und zu eifrig dabei, ins Ohr geschnitten, mit der sehr scharfen Schere, einmal kurz durch den Rand der Ohrmuschel durch, das Röllchen am Rand. Das bei ihm mehr als ein flacher Umschlag ist, eher ein Röllchen. (Weder Röllchen noch Röllchenohr wurde er gern genannt, besonders nicht, wenn wir nicht alleine waren.) Schnipps, einmal durch und wie lang und wie viel so ein kleines Ohr bluten kann, das kann man sich gar nicht vorstellen. Und wie laut so ein Kind schreien kann, auf seinem kinderfreundlichen FriseurHochstuhl. Und wie zerknirscht und unglücklich und wiedergutmachenwollendhilflos so ein Lehrling sein kann, unglaublich lang. Bis einem die Flucht gelingt, mit dem tropfenden Kind unter dem Arm.
Eins der Kinder hat dann mal mit der scharfen Schere, unserer scharfen Schere, der zum Haareschneiden von Kindern, die nicht mehr zum Friseur gehen, dem Hund ins Ohr geschnitten. Lappen weggehalten und einmal kurz in den Hund geschnitten, beziehungsweise sein schwarzes großes LabradorOhr. Eventuell sogar dann bald nach dem Friseurbesuch, da könnte das gewesen sein. Aber das wird sich nicht mehr feststellen lassen. Sicher aber mit ganz interessiertem Blick, was der Hund gleich davon hält. Den hohen Ton hab ich heute noch. Der Hund, eine Seele von einem Hund, hat sicher brav stillgehalten, ist hingestanden, was dem Kind gleich für ein gutes Spiel einfallen könnte, an dem auch er Vergnügen hätte und Abwechslung.
Nachdem ich ihn eingefangen hatte, er quiekend und blutverteilend durchs Haus rennend … Ich seh mich noch, zwei Tempos dick zusammengelegt ums Ohr pressend, auf den Knien, den Hund unter dem Arm eingeklemmt und ihm beruhigend zusprechend, damit er nicht wieder abhaute und herumschoß und sein Blut verteilte wie Jackson Pollock in seinen besten Zeiten. Wahrscheinlich habe ich gesagt: Du bist unser Hund und gehörst zu uns und wir sind eine ganz freundliche Familie sonst und es wird nicht noch mal passieren, das versprech ich dir. Ab jetzt paß ich besser auf, auf dich. Nimms ihm nicht übel. Er ist noch ein kleines Kind. Und hat so ein Unglück eben auch erlebt. (Wenns wirklich danach war, könnte ich das gut so gesagt haben.) Der Hund hats ihm tatsächlich nicht übel genommen. Unser Hund hatte ein gutes und großzügiges Herz.
Wir weniger. Einmal hatten wir Kinderbesuch, ein Kind aus dem Kindergarten, das noch nie bei uns gewesen war, ein kleiner Junge. Das Kinderzelt war im Garten aufgebaut, ein blauweißes Iglu war es und hatte Fliegengitter-Fenster zum Hochklappen und Festbinden und vorne einen Reißverschluß und drinnen roch es nach Gummiboden und Zelt in der Sonne. Und irgendwie muß dieser Junge im Haus an eine Schere gekommen sein. Jedenfalls hat er ins Kinderzelt geschnitten, an paar Stellen, einfach reingeschnitten. Er hat nichts sagen wollen dazu. Wir waren dann wenig erfreut von dem Besuch.
Ich habe es der Mutter gegenüber vorsichtig angedeutet, nicht weil wir ein neues Zelt wollten. Das war ja unser Kinderzelt, jetzt war es eben eingeschnitten. Aber dann war sie mehr betroffen als ich dachte und wollte und sagte, der Junge hätte ein große Herzoperation gehabt und eine Narbe über die ganze Brust und daß sie immer aufpassen muß, daß er nicht in was reinschneidet. Auch in seine Sachen würde er schneiden. Wir haben ihn dann lieber nicht mehr eingeladen, erstmal.
Jens jedenfalls machte nach seinen Lehrjahren unten in der Altstadt ein kleines Geschäft auf, wo man sich ohne großes Trara die Haare schneiden lassen konnte, immer noch kann, sich auch selber kurz durchfönen darf oder wie ich, auch halbnaß rauslaufen. Ganz wies beliebt, sagt Jens immer, ich also immer dann so, wegen Ungeduld und nicht stillsitzen können so lange und Nichtstun und vor allem, glaub ich, dem Ausgeliefertsein. Klein und nicht wegkönnen.
Einmal wollte ich zu Jens, Haareschneiden. Wenn ich ihn anrufe, sage ich meist: einen Nottermin bitte. Und er: Okay, wie wärs mit gestern, 16 Uhr? Ich weiß nicht mehr, warum ich an dem Tag nicht bei ihm war, vielleicht wars ein Nottermin und er schon belegt. Oder war ich doch bei ihm und Karsten hat mir nur vorher die Haare gewaschen? Jens fragt immer: Was nehmen wir uns denn heute Schönes mit dir vor? Wenn er nicht fragt: Was sollen wir denn heute mit dir anstellen? schon mit der Schere in der Hand und mir einmal durchs Haar fahrend und auch wenn ich keine Ahnung habe, sagt er: also gut! Manchmal fragt er auch einfach: wieviel oder wieviel nicht? Jedenfalls hat mir Karsten an dem Tag die Haare gewaschen, da gibts keinen Zweifel. Mehr muß man für die Geschichte nicht wissen.
Aber die Zeit geht ja weiter und inzwischen malt Jens auch, vorzugsweise Männer, vorzugsweise kräftige und nackt, hingelagert mit geöffneten Schenkeln und einigen Beilagen, ausgebreitet. Und, muß man sich vorstellen, der ganze Laden voll davon, große Formate, jede freie Wand mit mehreren Männern behängt, glaub in Öl. Nein, Acryl. In dem Laden lassen sich auch ältere Damen ondulieren, weil die Preise recht vernünftig geblieben sind über die Jahre und immer eine gute Stimmung. Jens mit seinem halbstarken Jungmanncharme und wie viel und erschreckend laut er lacht, daß man unter seinem Schutzumhang, fast eingeschlafen, zusammenfährt und auch noch hübsche Mädchen gehören dazu, die färben und schneiden und Locken machen, daß es eine Pracht ist. Jedenfalls, wie ich neulich da sitze, geht eins der Mädchen ans Telefon (weils klingelt, eine muß dann immer gehen), kommt wieder und berichtet: Das war gerade eine ältere gute Kundin von uns. Sie kann erstmal nicht mehr kommen, zum Schneiden, Färben, Legen. Tut mir so leid, sagt sie, solange die ganzen nackten Männer da hängen. Sie komme dann gerne wieder, wenns vorbei ist. Mit der Ausstellung, von Jens.
Vielleicht hängen sie noch. Sie wollen es nie mehr anders haben beim Haareschneiden, ich wette. Die Geschichte mit Karsten muß jetzt doch auf die nächste Seite, die bringe ich hier nicht auch noch unter.
Karsten
Er hatte ihr schon mal die Haare gewaschen. Sie hatte es fast vergessen, ihr Kopf nicht. Als seine Hände anfingen, war das vertraut, eine ruhige Kraft, der langsame Rhythmus, der schwingende Druck im Haar auf der Haut, die sich zusammenzog, um sich bald zu ergeben.
Die schwarze Lederhose hing sehr lässig an ihm, fand sie, um die Hüften noch ein Nietengürtel, ein paar Ketten, schwarzes Shirt RAMONES. Dann sah sie hinten noch ein HEY HO. Die Stiefel waren die schweren schwarzen, mit harten Kappen. Er bewegte sich gut zwischen den eisernen Spiegeln. Die weißen Wände waren zu der Zeit mit dem Pinsel rot und schwarz bespritzt, daß die Tropfen rot runtergelaufen waren oder schwarz.
Die Haare hatte er lila, an diesem Tag. Oben ein stehengelassener breiter Streifen, die Seiten hoch rasiert, im Rasierten schmale haarige Striche, hell lila, wie Fellstreifen, links einer, rechts vier. Sie hatte sie im Spiegel gezählt. Er hatte so Jungsohren, das Neonlicht schien fast durch sie durch, solche, die so rot werden können, daß sie anschwellen. Am Ohrrand kleine Ringe, einen an der Nase.
Sie war müde, legte ein Bein über den Hocker mit dem gerissenen Leder. Ihr Nacken lag schon in der harten Vertiefung vom Becken. Der Rücken etwas durchgebogen, Brust hoch, Augen zu. Noch etwas mehr nach hinten? Das Wasser war gut warm. Sie roch das Leder. Das Wasser quoll, schäumte über ihre Haare. Seine Hand hielt es von ihrer Stirn ab.
Ist es so gut ? Seine Hände an ihr, keine Frage mehr. Kreise, Druck, verschoben und verstrichen. Kreise, ohne Ansatz, ineinander Finger, Kopf, Haut. Es läuft immer Musik in dem Laden. Seine Finger drehten die Töne, Schläge in ihre Haare, Wellen. Was macht er mit seinen Daumen. Kleine Spannungen setzen, hinter die Ohren, die Finger lösten sie reibend wieder auf. Wellen, den Rücken runter, Wärme, nicht aufhören, wollte sie sagen, Schauer, keine Bewölkung. Härchen stellten sich zitternd auf.
Wasser schäumte wieder über die Haare. Eine Handkante quer und leicht auf ihrem Ohr. Seine Hand gab dem Wasser Richtung, lenkte es ab, daß es ihr nicht ins Gesicht lief. Das Wasser war warm. Seine Handkante war im warmen Wasser heiß, auf ihrem Ohr. Das Ohr wollte das.
Ist das Wasser so richtig? Ihr Ja, mehr gehaucht. Soll ich zweimal waschen? hörte sie ihn fragen. Unbedingt, wollte sie sagen. Drei Finger hätte sie hochhalten können.
Das Halsband
Kaum hatte sie mit dem Schneiden angefangen, wurde sie auch schon langsamer, kams mir vor, weil sie erzählte dabei und manchmal sah sie mich im Spiegel kurz an, dazu. Den Kamm am Kopf, die Schere offen, nach oben. Was ich davon halte. Er wollte einen Termin für seine 15-jährige Tochter ausmachen, sie war am Telefon gewesen und hatte nach einem freienTermin gesehen und dabei redete er weiter, daß die Tochter neulich bei einer Freundin war und zu der wäre ein italienischer Friseur gekommen, nach Hause. In einem Koffer hatte der alles mit, was er brauchte. Und wie er den großen schwarzen Umhang herausgezogen und sich über den Arm gehängt hat, wie ein Kellner so elegant, und wie er ihr dann ein Halskreppband um den Hals gelegt hat, also ihrer Freundin, und gut festgemacht, stramm und doch zärtlich, so hat er das gesagt und dann den Umhang um sie herum und wie er ihr dann die Haare, die roten Haare geschnitten hat und die Haare sind so rot und feucht an dem schwarzen glänzenden Umhang heruntergeglitten, wie kleine Flammen, da wollte seine Tochter das auch haben. Sie schaute mich im Spiegel an, die Schere hochhaltend. Und was das für ein Rot war, von den Haaren und wie die kleinen Büschel so rot und feucht runtergerutscht sind an dem glatten schwarzen Umhang, so rot. Irischrot hat er gemeint, erklärte sie mir im Spiegel und daß sie ihm das auch gesagt hat, irischrot. Und wie sie ihm also verschiedene Termine vorgeschlagen hat.
Aber seine Tochter wäre sehr schüchtern, sie bräuchte eine sehr einfühlsame junge Frau, ob sie das denn tun könnte. Also hätte sie bei ihren Terminen geschaut. Und ob sie denn auch solche Halskreppbänder benutzen würden, im Salon. Sicher wäre seine Tochter zu schüchtern, um dann danach zu fragen, wenn es soweit wäre.
Inzwischen hatte sie hinten herum alles geschnitten und war nach vorne gekommen, die Länge ungefähr? sie hielt die Kante vom Kamm an meine Stirn und sah über meinen Kopf mit mir zusammen im Spiegel auf mich. Die hätten sie schon, aus hygienischen Gründen sollten sie die auch nehmen, nach der Vorschrift, aber würden sie eigentlich nicht. Sie hätten ja normal diese Gummikrägen, daß der Umhang fest anliegt und keine Haare in den Ausschnitt geraten können. Aber auf besonderen Wunsch, sie zog die Schultern im Spiegel hoch und sah mich an, wenn einer das unbedingt will …
Ich sah mich mit dem schwarzen Gummiding um den Hals, dem schwarzglänzenden Umhang, das Pony war etwas kürzer geworden, als ich mir das gedacht hatte. Er hat dann einen Termin ausgemacht, für seine Tochter, ist aber nicht gekommen. Sie zeigte mir im Rundspiegel meinen Kopf von hinten, nahm mir den schweren Kragen ab, klatschte ihn zusammen, daß die Haare abflogen, klemmte ihn sich unter den Arm und öffnete mir im Nacken den Umhang.
Kann ich mal so ein Halsband sehen, fragte ich, im Stehen schon, wir sagen Hakra dazu, sagte sie und zog die unterste Schublade von der rosenbemalten Kommode neben uns auf. Die Föne waren ganz still an der Wand. Es redete auch sonst gerade keiner viel, von den anderen.
Fortsetzung
Als ich das nächste Mal in dem Laden war, fing sie noch vor dem Waschen damit an, daß er wieder angerufen hat. Und Nadine wäre dran gewesen. Nadine ist der Lehrling. Und wußte von der Geschichte gar nichts, weil sie das letzte Mal frei gehabt hatte, als er angerufen hat. Und eben sie dran hatte.
Nadine wäre vom Telefon gekommen: Da war einer, der wollte einen Termin für seine Tochter ausmachen. Und aber seine Tocher wär sehr verwöhnt und bräuchte viel Aufmerksamkeit. Und ob wir denn auch solche Kreppbänder benutzen würden, im Salon. Weil seine Tochter, die wär neulich bei einer Freundin gewesen und zu der wäre ein italienischer Friseur gekommen …
Heißenbüttel
Kopfscherer
Ihm konnte man solche Geschichten erzählen. Solche wie die mit dem Koch. Dachte ich. Und kam dann doch in Zweifel. Was, wenn er sie in den falschen Hals kriegen würde.
Morgens, zwischen acht und elf. Rundfunk, neunte Ebene, Kultur. Und noch keiner da, nur wir. Zeit für Geschichten. Für wahre Geschichten. Was wäre, wenn … Ich kannte mal einen, der … Können Sie sich das vorstellen? Er konnte sich alles vorstellen.
Er hörte zu, in seinem Sessel zurückgelegt, die Beine lang weggestreckt, und schaute auf seinen Schreibtisch, die Augen halb geschlossen. Und manchmal griff er, ganz in die Geschichte vertieft, in seine Schublade, holte seinen Bartscherer heraus und fuhr sich damit, ganz in die Geschichte vertieft, über den Kopf. Von vorn nach hinten, von hinten nach vorn, mit einer ruhigen Handbewegung. War der Kopf gut geschoren, stoppelkurz, kam der Scherer wieder in die Schublade. Die Hand strich prüfend über den Kopf, von vorn nach hinten, von hinten nach vorn.
Die Geschichte. Wenn ich sie noch zusammenkriege. Die Geschichte, die ich ihm an diesem Morgen erzählte, dann doch. Die mit dem Koch. Auf jeden Fall zog dieser Koch mit einer Mannschaft von freien Schafscherern durch Australien. Von Farm zu Farm, zur Schafschurzeit.
Es war der beste Koch, den sie je gehabt hatten. Seine Bohnen, sein Chilli höllisch gut. Seine Burger, unbeschreiblich. Nur daß immer wieder Haare, schwarze, kräuselige, in dem würzigen Hackfleisch steckten. Auch mal aus der braunen Kruste ragten, so daß man sie vor dem Reinbeißen gut rausziehen konnte.
Nicht, daß uns das besonders gestört hätte, ich meine die Schafscherer. Aber man macht sich so seine Gedanken, oben auf dem Wagen, vor der nächsten Farm.
Irgendwann siehst du nur noch Schafe. Ungeschorene, halbgeschorene, geschorene Schafe, Schafe und Schafe. Aber unterwegs fragst du dich auch schon mal, was der Koch so treibt. Und denkst schon an die Burger. Und wie er die wohl macht, mit seinem einen Arm. Der Koch. Fragst du dich und die Jungs. Und die zucken mit den Schultern erst, legen die Stirn in Falten. Und fragen sich dann auch. Der Koch. Das soll er uns mal zeigen.
Er zeigts uns. Was soll ich euch erzählen. Das muß man gesehen haben. Wie er mit seinem Arm in die Schüssel langt, von dem Hackfleischzeug eine Handvoll rausholt und sich dann mit Schwung unter die Achsel haut, also die von dem Armstumpf. Und wie er, ich kanns nur vormachen, so mit dem drückt und rollt und drückt und dann den Stumpf hoch. Und da fällt der Burger bestens raus, von der Hand gefangen, zart auf dem Tisch abgelegt und zack, die nächste Ladung unter die Achsel.
Er kippte nach hinten, schob sich vom Schreibtisch weg, mit seinem einen Arm. Der Kopf, versteht sich, frisch geschoren, der Scherer schon wieder in der Schublade. Und sein Lachen donnerte durch die neunte Ebene, Kultur. Heißenbüttel konnte man solche Geschichten erzählen.
Heißenbüttel 1
Heißenbüttel steht, am Fenster. Heißenbüttel hat seinen Cordanzug an, am liebsten. Heißenbüttel steht am Fenster vom neunten Stock. Rundfunk, neunte Ebene, Kultur. Morgens und noch keiner da, nur wir. Heißenbüttel sagt einiges. Ich sage einiges. An diesem Morgen zu dem Thema: Einer fällt aus dem neunten Stock. Wir sehen aus dem Fenster vom neunten Stock. Und sagen uns, was einer denkt, von hier bis, da unten, noch. Satz um Satz sagen wir, was einer, von hier bis, gerade noch. Wir hören den Aufschlag, jedesmal.
Heißenbüttel 2
Heißenbüttel sitzt, am Schreibtisch. Heißenbüttel sitzt gern am Schreibtisch und spricht. Heißenbüttel spricht und zieht die Schublade auf, holt seinen Rasierer raus. Und fährt sich mit dem Rasierer über den Kopf. Von vorn nach hinten, von hinten nach vorn. Und spricht. Von vorn nach hinten, von hinten nach vorn. Der Rasierer kommt wieder in die Schublade. Die Schublade wieder zu. Heißenbüttel spricht, nach wie vor. Und fährt sich mit der Hand über den Kopf, von vorn nach hinten, von hinten nach vorn.
Heißenbüttel 3
Heißenbüttel steht, im Gang. Heißenbüttel ist auf dem Weg, in sein Zimmer. Ich komme um die Ecke, sehe Heißenbüttel, am Ende vom langen Gang. Heißenbüttel macht die Arme auf, einen langen und einen kurzen Arm. Heißenbüttel wartet. Der Gang ist lang. Heißenbüttel lacht. Der Gang ist lang. Ich komme bei Heißenbüttel an. Er hält die Arme auf. Einer lang und einer arm. Und steht da, immer noch, so.
Heißenbüttel 4
Heißenbüttel sitzt, am Schreibtisch. Heißenbüttel schiebt sich vom Schreibtisch weg, legt sich in seinem Sessel zurück, streckt die Beine weit von sich. Heißenbüttel sieht Frau Kelnhofer* zu. Frau Kelnhofer steht auf einem Stuhl und sieht oben im Regal nach den Akten. Heißenbüttel sagt: Frau Kelnhofer! Frau Kelnhofer steht auf ihrem Stuhl und dreht sich zu Heißenbüttel um. Frau Kelnhofer hat eine kleine Röte im Gesicht. Frau Kelnhofer hat immer diese Röte im Gesicht, wenn Herr Heißenbüttel so: Frau Kelnhofer! sagt. Obwohl Frau Kelnhofer soviel älter ist als Herr Heißenbüttel. Was Frau Kelnhofer Herrn Heißenbüttel immer wieder sagt. Frau Kelnhofer steht auf ihrem Stuhl und dreht sich zu Heißenbüttel um. Und sagt: also Herr Heißenbüttel!
Heißenbüttel 5
Heißenbüttel steht, im Zimmer. Heißenbüttel steht mit seiner Hand im Zimmer. Und denkt. Es ist eine große Hand, mit der er da steht. Heißenbüttels Hand ist noch gewachsen. Bis sie groß genug war, alles alleine zu machen. Heißenbüttel hat eine Hand für zwei.
Heißenbüttel 6
Heißenbüttel steht, im Zimmer. Und erzählt. Heißenbüttel holt weit aus, mit seiner Hand. Heißenbüttel langt um die Geschichte herum, von der die Rede ist. Heißenbüttel redet sich in die Geschichte rein. Heißenbüttel erzählt sich an den Text heran. Ich sitze auf seinem Schreibtisch und höre zu. Heißenbüttel erzählt. Und läuft, weil die Sätze Bewegung kriegen, hin und her. Hin und her. Einfache Sätze, kriegen mehr und mehr: Rhythmus. Wiederholung. Variation. Heißenbüttel erzählt und dirigiert, in einer Person. Variation. Kombination. Heißenbüttel dirigiert die Sätze, mit seiner Hand. Aus der Geschichte, an ihren Platz, im Text. Zeile für Zeile, Wort für Wort. Ich gehe vom Schreibtisch, weil Heißenbüttel jetzt da hin muß.
Heißenbüttel 7
Heißenbüttel kommt, ins Büro. Heißenbüttel hatte eine Sitzung. Die so war, daß Heißenbüttel jetzt so aussieht. Nach der Sitzung. Heißenbüttel kommt ins Büro und sieht sich um. Nach einem guten Grund. Um sich aufzuregen, mit Recht. Seine Sekretärin kennt das schon. Der Grund findet sich, bald. Heißenbüttel brüllt. Seine Sekretärin hält das aus. Seine Sekretärin kennt das. Seine Sekretärin schreit, dann doch auch. Kollegen schauen besorgt zur Tür rein und wieder raus. Man kann nichts tun. Heißenbüttel geht, in sein Zimmer, an seinen Schreibtisch. Kurz darauf hört man ihn pfeifen, bei der Arbeit.
Heißenbüttel 8
Heißenbüttel schaut, zur Tür rein. Frau Kelnhofer sitzt an ihrer Buchhaltung. Frau Kelnhofer ist gern: auf gleich, in ihrer Buchhaltung. Frau Kelnhofer tut nach eigener Aussage immer alles, um gut auf gleich zu sein. Soll und Haben aufs Komma genau, gleich. Heißenbüttel schaut zur Tür rein und ruft: Frau Kelnhofer! Alles gut auf gleich? Frau Kelnhofer erschrickt, schaut von ihrer Buchhaltung auf und nickt. Und strahlt, zugleich. Herrn Heißenbüttel an.
Heißenbüttel 9
Heißenbüttel lehnt, am Schreibtisch. Heißenbüttel hat seine Sandalen an, am liebsten. Heißenbüttel hat Socken an, aus seiner Sockensammlung. So 70 bis 80 Paar, schätzt er, werden es inzwischen schon sein. Ich sehe auf seine Socken. Und sage: Solche Socken sieht man nicht alle Tage. Heißenbüttel sieht auf seine Socken und freut sich, sichtlich. Und sagt: Wir sprechen uns morgen wieder!
Heißenbüttel 10
Heißenbüttel stemmt, einen Ordner. Heißenbüttel stemmt einen dicken, schweren Leitz-Ordner. So voll, daß man ihn kaum im Rücken fassen kann. Kaum halten, mit einer Hand. Wenn Frau Kelnhofer einen Ordner braucht, von ganz oben, mit den alten Sendungen, dann kommt Heißenbüttel, mit seiner Hand. Und holt ihr den Ordner runter. Frau Kelnhofer weiß das. Frau Kelnhofer würde sich nie eigenmächtig einen der Ordner holen, von ganz oben. Heißenbüttel holt den Ordner und stemmt ihn, hoch und runter. Hoch und runter. Frau Kelnhofer sieht Herrn Heißenbüttel gerne zu, wie er stemmt. Heißenbüttel stärkt seine Hand. Frau Kelnhofer kennt das schon. Heißenbüttel stärkt seine Hand, wo er geht und steht.
Heißenbüttel 11
Heißenbüttel setzt sich, an den Schreibtisch. Von seiner Sekretärin. Wenn sie nicht da ist. Das wird nicht gern gesehen, von seiner Sekretärin. Weil Heißenbüttel alles sieht, was es nur zu sehen gibt. Auf dem Schreibtisch. Weil Heißenbüttels Neugier vor nichts halt macht. Auch nicht vor Schubladen. Heißenbüttel zieht die Schublade auf und holt die Ersatzstrumpfhose raus. Von seiner Sekretärin, mit zwei Fingern. Und hält die Ersatzstrumpfhose hoch, interessiert. Das wird nicht gern gesehen, von seiner Sekretärin. Wenn sie wiederkommt. Besonders nicht, wenn gegenüber von ihrem Schreibtisch noch eine Kollegin aus der Kultur sitzt, die gerade vorbeigekommen ist. Mit der Heißenbüttel gerade spricht. Während er ihre Strumpfhose betrachtet.
Heißenbüttel 12
Heißenbüttel kommt, ins Büro. Heißenbüttel sieht man schon von weitem. Draußen, durchs Fenster. Im Regen, näherkommen. Eine riesige Gestalt. Und gelb. Weil Heißenbüttel seine gelbe Jacke anhat. Sehr gelb. Mehr gelb geht nicht, da draußen. Und den dazu passenden Südwester, gelb. Und unter dem Kinn zugebunden, wie es sich gehört, auf hoher See. Heißenbüttel liebt Farben. Und gern auch mal alle auf einmal. Sieht man, an ihm.
Heißenbüttel 13
Heißenbüttel liebt, Blusen. Etwas offenstehende Blusen. Und auch die von seiner Sekretärin. Wenn sie an ihrem Schreibtisch sitzt und arbeitet. Heißenbüttels Hand verschwindet in der Bluse und bleibt da bißchen. Heißenbüttels Hand kommt nicht gern wieder heraus, aus der Bluse. Die Sekretärin schimpft, mit Heißenbüttel. Heißenbüttel holt die Hand aus der Bluse und zieht sich hinter seinen Schreibtisch zurück, zerknirscht. Heißenbüttel tut so lange so zerknirscht, bis die Sekretärin lachen muß. Und Heißenbüttel aufhören kann, mit dem Zerknirschttun. Und anfangen kann zu arbeiten, fröhlich.
Heißenbüttel 14
Heißenbüttel läuft, herum. Mit einem Paket unter dem Arm. Das er wegschicken will. Fertig machen, für die Post. Heißenbüttel legt die Schnur zurecht, auf seinem Schreibtisch. Und das Paket, auf die Schnur. Und legt die Schnur um das Paket. Über kreuz. Und drunter durch. Und wieder hoch. Und redet dabei, die ganze Zeit. Und keiner sagt was, sonst. Weil die Geschichte so spannend ist. Wie die Enden, von der Schnur, wieder nach oben kommen, beide. Wie er den Knoten zurechtlegt, auf dem Paket. Wie er das eine Ende hält, ohne Hand, und das andere Ende zieht, mit Hand. So lange, bis der Knoten zugezogen ist, fest. So lange, ist es kurz ganz still.
* Die Buchhalterin, auch genannt die Kelnhoferin – hier nicht zu verwechseln mit: der Sekretärin, die auch aus aufeinanderfolgenden Sekretärinnen zusammengesetzt sein könnte, aber nicht muß, und deswegen oder aber hier einfach: die Sekretärin heißt.
Niedlich
Ich habe bei Niedlich gelesen
Er war da. Stand hinter seiner Kasse, klein und gerade, und starrte durch die offene Tür nach draußen. Er schien nicht übel Lust auf eine Geschichte zu haben.
Ich stellte mich neben ihn. Wartete. Und sagte dann: Ich würde Ihnen gern was vorlesen. Haben Sie eine ruhige Ecke? Er hatte keine. Sie sehen doch, ich habe hier zu tun. Ich sah außer ihm noch drei, vier Leute im Laden stehen, mit einem Buch in der Hand. Niedlich hatte kein Buch in der Hand. Und die Augen draußen.
Ich kann auch hier. Das macht mir nichts, sagte ich. Und wartete. Vom Öffnen und Schließen des Mundes schien Niedlich nicht viel zu halten. Besonders nicht vom Öffnen. Endlich ein dünnes: Dann lesen Sie schon.
Ich las. Die Geschichte mit dem Koch. Und mit dem Heißenbüttel. Ich blieb stehen, wo ich stand, neben ihm und, wie ich fand, ziemlich lässig an seine Bücherleiter gelehnt, mit dem linken Ellbogen auf der vierten Stufe oder wars die fünfte.
Es war ruhig im Laden. Nichts los außer meiner Stimme. An der Stelle in der story, wo das mit den Haaren im Hackfleisch anfängt, die Jungs nervös zu machen, dachte ich, ich sehe mal nach Niedlich. Er stand noch genau so, hinter seiner Kasse, die Augen auf der Straße, die Ohren sonstwo.
Verdammt. Die Sache läuft nicht, dachte ich. Niedlich sah gar nicht gut aus. Dabei hatte ich mir die Sache so einfach vorgestellt. Ein paar Leute im Laden. Ich mach eine lockere Lesung. Niedlich interessiert, je länger ich lese, um so mehr interessiert.
Ich brachte meine Geschichte zu Ende. Sie kam sonst wirklich immer gut an. Niedlich stand da. Und sah auch inzwischen nicht viel besser aus. Und jetzt muß ich was dazu sagen? Müssen Sie nicht. Aber Sie haben mich doch auch gezwungen, Ihnen zuzuhören. Ich habe Sie gefragt. Sie hätten nein sagen können. Es sah sich gut durch die Ladentür, mit Niedlich.
Das ist keine Geschichte, die mich aufregt. Der Satz mußte zwischen seinen schmalen Lippen durchgekrochen sein. Und dann kam noch einer. Irgendwie was über Literatur. Und das hatte irgendwie wenig mit meiner Geschichte zu tun. Dann kam nichts mehr.
Okay, jetzt mußten zwei, drei Sätze meinerseits gesagt werden: Ich hab Ihnen was geschickt, schon länger, wegen einer Lesung in Ihrem Laden. Ich hab angerufen. Nichts. Nachgefragt. Wieder nichts. Ich dachte, ich geh mal vorbei. Ich dachte, ich les Ihnen einfach was, vor. Dachte ich.
Niedlich dachte auch, nach, kurz. Ich wartete. Mal reingesehen. Ich gleich etwas erfreut: Haben Sies gelesen? Ich sagte doch schon. Wenn da nicht eine kleine Schärfe in dem flachen Ton war! Kann dann hier im Laden abgeholt werden.
Draußen war ich. Die Sache war gelaufen. Verdammt, dachte ich. Die Sache war verdammt schlecht gelaufen. Reg dich nicht auf, dachte ich auch, das Leben geht weiter. Und immerhin, soviel steht fest: Ich habe bei Niedlich gelesen.