Poetologische Fragen 1 – Der Blick

Anna B. – für www.myslam.de

Sehe ich, wenn was zu be-schreiben ist, fragt man sich. Habe ich den sogenannten poetischen Blick. Seh ich das, was alle sehen, und seh ich dazu noch irgendwas. Das irgendwie mir sichtbar ist. Und sehenswert, bemerkenswert, hervorhebenswert, ist da was zu besprechen, bedichten, mitzuteilen – anderen, die davon dann auch was haben könnten. Das sie sonst nicht gehabt hätten?, ohne meine spezielle Sicht. Sehe ich da was, das man sonst nicht so sieht, übersieht, in seinem Sichtfeld, „im Normalfall“ nicht erwähnenswert.

„Nichts ist selbstverständlich; wir haben uns nur an manches gewöhnt.“
Aus einem unveröffentlichten Notizbuch des Schülers Rainer Malkowski

Sieht der „poetische Blick“ einen poetischen (Eigen)Sinn in einem alltäglichen Ding, einer Sache, könnt auch ein Tun sein, Machen, Handeln, Erlebtes gar, Geschehenes – und kann ich das, was ich mehr, was ich anders sehe, so fassen, formen, darstellen, es erzählen, daß es andere auch sehen. Und Vergnügen haben, Gewinn, Bereicherung davon – kann sein, auch Erregung, Ärger, aber auch da ist Bewegung drin.

Die poetische Sicht kann sein: der naive Blick, der in seiner Unschuld noch offen aufnehmend ist, ohne gleich einsetzende Registrierungen, Klassifizierungen, Beurteilungen, Kostenfragen. Er kann der Blick des Kindes, eines Fremden sein oder des Außerirdischen, der uns, unsere gewohnte Umgebung und selbstverständlichen Regeln, Riten das erste Mal sieht. Also der Blick mit großem Abstand oder auch umgekehrt, man geht ganz nah ran, zoomt sich hin auf ein Ding, eine Sache, ein Tun …
Kinder sehen doch sowieso, wenn sie einschlafen sollen, im Tapetenmuster die lauernden Ungeheuer, machen einen Schritt über die kleine Tiere in der Maserung vom Holzboden. Sie schauen frisch und freundlich an, was wir für nicht wahr, wirklich oder für „immer schon da“ halten und weil zu gewohnt, nicht mehr sehen.

Ansichtssache

die Mülleimerbande! ruft das Kind als an der Straße die Mülleimer stehn – ja, griffbereit haben sie sich schwer brav hintereinander angestellt – üble Typen, Türsteher schwarzvermummte Gestalten, stimmt oder alte Dreckskerle, ganz wie mans nimmt

Eine poetische Kompetenz, die bei Kindern noch ausgeprägt, naturgegeben da ist, später „vernünftigerweise“ sich zurückentwickelt, schwächer wird, bis sie ziemlich absterben kann – das hängt von den Lebens- und Familienververhältnissen, Jobbedingungen, Druckverhältnissen ab, das Sichtfeld schränkt sich ein durch Stress, Sorgen, Business … Funktionierende Teile im kapitalistischen System müssen nicht mehr sehen, als produktiv für die Produktion zu sehen ist. Künstler kann man auch keine Kinder mehr sein lassen, die Zeit der Naiven ist vorbei, wenn sie erfolgreich und gewinnbringend im Kunstmarkt, Kunstgeschäft! sein sollen.

Ein Mehrwert also? wäre an einem Teil zu sehen, vom Leben, von der Welt – und Mehrwert heißt mehr als die Summe seiner Einzelteile, mehr als Worte sind mit ihren Bedeutungen in einem Gedicht – ein Schein, ein Bann, ein Fluch, der liegt, Glück und Verdammnis, Dunkelheit, Liebe, etwas, das fliegt. Man hörts schon, der Reim ist ein gern genommenes Instrument, brauchbar, einsetzbar in dem dichterischen Gewerbe: Ich schreibe, zeige her – was ich mehr (oder weniger) gesehen habe – auf der Bühne, auf dem Blatt, biete das verlockend, klangvoll an.

Der Reim macht es griffig, eingängig, ohrschlüpfrig, und er macht das Gedicht, den Streifen Text fester und (zauber)formelhaft, kompakt. So scheint das Geschriebene natürlich richtig, dichtig, gewichtig, weil wo sichs reimt, weniger der Zweifel keimt (- auch dieser Text hier versuchts!). Gefühlte Stimmigkeit. Und was sich reimt, scheint weniger gemacht als gefunden – eine Harmonie der sprachlichen Natur, ein sinfonisches Paar, das im unendlichen Raum der Wörter so gut wie vorherbestimmt, füreinander vorgesehen war. Paßt doch der Deckel auf den Topf, der Kopf auf den Körper, Frage und Antwort, Sang und Klang, vor und zurück, paßt!, erfüllt sich Sehnsucht, es kommt bestimmt: das Glück.
Also ein gutes Werkzeug in dem Job des Dichtens, wenn man seine Einsatzmöglichkeiten und Gefahren kennt, was nicht viel hilft, manchmal. Eine Eigendynamik hat die Reimerei, einmal damit angefangen, hört sichs schlecht wieder auf – treibt „es“ das Gedicht laut-kopulierend voran, findet sich wie magnetisch das nächste Passwort, riecht der Dichter schon fast, erspürt das nahe Trüffelwort.

Ich habe gehört, Derek Walcott (karibischer Dichter mit Nobelpreis) habe mal gesagt:

wenn du ein Gedicht mit Reim hast
dann mußt du sehr genau sein mit deinen Worten und Gedanken
weil
du bist noch nicht am Ende mit deinem Gedanken, aber:
der Reim kommt
der Reim kommt

also schaudasdn unterbringst
(hat der bayerische Dichter dazugesagt, der Walcott getroffen und mir das berichtet hat).

Und, muß man sich auch manchmal fragen, ist er hier sinnvoll, notwendig?, der Reim. Stärkt er den Text, fordert das Gedicht, was der Reim gibt, geben kann oder verziert er, dekoriert mehr, ist verzichtbar? Vorsicht Kassenware, billig und griffbereit.
Seine Verführkraft – was man schon daran sieht, daß hier schon eine Weile vom Reim und nicht mehr vom poetischen Sehen die Rede ist – ist groß, was sowohl Dichter, Slammer (beiden Geschlechts) betrifft als auch das Publikum – es wird zum Schlucken animiert. Ein wirksamer Stoff, sein Suchtpotential erheblich: die schnelle Befriedigung, die greifbare Brücke über jeden Bruch, scheinbar Unverbindliches – was für ein Klebstoff, Kitt! Täuschungskapazität.
Seine überdurchschnittliche Verkaufskraft wird in der Werbung genutzt, jeder Betrieb arbeitet gern damit.

Neulich gesehen an einer Bäckerei mit Café:
Aussichtssache Freiterrasse

Und das! ist eine poetische Lüge und auch nicht. Ich habs so gelesen, auf Entfernung, beim zweiten, näheren Hinsehen stand da: Aussichtscafé Freiterrasse
(Café Schmid, Eichendorffstraße, Zollberg, Esslingen)

An einer alten Mühle im Stuttgarter Industriegebiet, echt abgelesen:

Kauf
Frießinger Mehl
du gehst nicht fehl!

Der Reim, das ist ein weites poetische Feld. Zurück zum Blick.

Seh ich also was dahinter oder drüber, drunter, seh ich mit der poetischen Brille schärfer oder besser unschärfer?, tiefer oder räumlicher, körperlicher das Flache, seh ich an einem Wort die Schleppe der Konnotationen, die es mitbringt, seh ich unter seinem abgenutzten Alltagskleid das schöne Wort, das es einmal war, mach ich es nackt und hol es stark hervor, hör ich bei dem! Satz in der U-Bahn schon fast die Geschichte, die dieser Satz anfangen kann. Seh ich wen im Bus und weiß, den schnapp ich mir, das ist die Figur, die ich brauche für das Stück. Die Rolle hat er, auch wenn er nichts davon weiß – ich bin der Produzent und Regisseur. Erzähl ich etwa von mir?, auch, so daß ich mich schreibend selber (anders) seh, was finden kann, an mir – fällt der poetische Blick aufs Eigene, aufs Ich. Oder lieber nicht.

Eigentum

wie im Wald
wird es auf einmal
ganz ruhig um mich
die Bäume warten

und ich finde was
von mir gefunden
werden will

Aber überhaupt der Haupttrick ist, finde ich: einfach hinsehen. Mit Betonung auf „einfach“. Einen mageren Blick versuchen, abgespeckt von allem Sekundären, Interpretatorischen, Beurteilenden – schlichte Sicht. Was der Dichter Rainer Malkowski so ausdrückt: „Das Einfache ist der unverstellte Zugang zum Komplexen.“

Romane schaffen eine eigene Welt (wenn sie das schaffen). Poetische Sicht macht ein kleines oder doch größeres? Fenster auf und die Aussicht ist eine andere als die altbekannte, gewohnte. Sie kann erfrischen und erschrecken, freuen und fürchten lassen, aber sie regt an, manchmal auch auf und bewegt, natürlich das Gefühl und den Verstand, im besten Fall wirds etwas stiller im Club, Keller, Saal und man hörts klopfen … Heartbeat, Poetry alive.

„Wahrnehmung als Ereignis – das ist es, was im Bewußtsein des Autors vorausgegangen sein muß, damit das Gedicht entstehen kann. Und es bezeichnet zugleich, was das Gedicht dem Leser im Spracherlebnis zu bieten hat. Wahrnehmung als Ereignis. Unsere Lieblingsgedichte sind wahrscheinlich jene, bei denen wir am deutlichsten fühlen, daß sie uns sehend machen.“
Rainer Malkowski „Dreizehn Arten das Gedicht zu betrachten“ , 1999

Nachbemerkung:

Der Essay ist in einer einfachen Sprache geschrieben worden für die Seite myslam.de – eine Reihe: Poetologische Fragen (2 – Der Abstand). Fixpoetry hat die Essays dann auch übernommen. Aber ich schreibe eh gern in „einfacher Sprache“.

Nach oben scrollen