Ich erzähle
eine Geschichte. Ich öffne einen Raum. Ich mache Räume. Ich richte ein. Ich stelle Möbel, als ständen sie schon immer so. Ich stelle Möbel, als ständen sie immer noch, wenn das Haus längst nicht mehr steht. Die verlassenen Wohnungen werden wieder bezogen, Zimmer für Zimmer aufgestellt. Originalgetreu möbliert. Vermeintlich Abgelebtes reproduziert, wahrer als das, was war. Was wirklich war, ist manchmal nicht wahr genug für eine richtig gute Geschichte. Oder zu unglaublich.
Ich erzähle. Ich stelle die Möbel, ich räume ein. Wer hört, sieht zu. Wer liest, steht dabei, stellt sich vor. Der Sessel, der Tisch, der Teppich, die große Schüssel. Das so Sichtbare des Objekts, der deutliche Stein im Textfeld, ein lebhafter „Eindruck“ an der Stelle, die einmal seine war, macht den Abdruck zum Original, hebt ihn hervor, setzt ihn einer Aufmerksamkeit aus, die ihn wieder wirklich macht. Wie abgenutzt der Gebrauchswert in einem vergangenen Alltag auch war, seine Position eine unter anderen.
Die Reproduktion wird in der Geschichte autonom. Das Bild lebt.
Wer zuhört, sieht. Auf dem Schirm erscheinen auch eigene Dokumente, aufgerufen werden Erinnerungen, die verlegt oder schon abgelegt waren. Andere Geschichten fangen an, angeleuchtet, angeregt. Können aufgeladen werden mit Erzählenergie. Wer geht, geht mit der eigenen Schüssel, Frisierkommode im Schlafzimmer der Eltern nach Hause.
Erzählen. Weitererzählen. Erzählen weitergeben.
Peter Bichsel: Weil wir unser Leben nur erzählend bestehen können.
Weil ich erzählen kann, bin ich, und weil ich’s erzählen kann, stehe ich‘s durch. Und: eine gute Geschichte bleibt im Kopf. Eine gute Geschichte wird weitererzählt.
Ich erzähle. Ich gehe vor und zurück. Verbinde gelebtes Leben mit der laufenden Zeit. Installiere einen Korridor, in dem, wer will, zurückgehen kann und findet sich auch in seinem Zimmer. Und gräbt nach seinen Artefakten und lässt sie, an die Luft gekommen, sehen, in neuem Licht. Wer sein altes Haus besucht, kann die Spuren finden – es war nicht alles dunkel – wie sie Autolichter auf Nachtfotos ziehen: Leuchtspuren vitaler, subversiver Potenzen im Kleinen, Verstopften, Gelähmten der frühen Jahre. Heimliches Wachsen im ertragenen Stillstand, auch im Armen, Unglücklichen; Triebhaftes im scheinbar schon Toten.
Es hat alles angefangen, keine Zeit ist leer vergangen. Wer erzählt, geht hin und sieht die Spuren, die Abdrücke kleiner Kräfte im oberflächlich sinnlos, bewusstlos Verlebten. Mit der Aufmerksamkeit der erzählenden Stimme kommt die Ahnung: nichts ist verloren.
Ich stelle die Möbel, ich stelle das Personal, ich höre Stimmen. Aus dem inneren Archiv, Fundstücke. Monologe, Dialoge. Gesagte Sätze, immer wieder so gesagte Sätze, Halbsätze, freistehende Wörter. Altes Inventar, aber vorgeholt wie gerade eben gesprochen. Von denen, die da waren, in der Geschichte, die ich erzähle. Und sagten, immer genau so. Und ich weiß, in anderen Archiven legen sich meine Sätze ab, Wörter, die so gesagt wurden, immer wieder oder einmal. Und einmal zu viel?
Ich erzähle eine Geschichte. Ich konstruiere, inszeniere und mit den Farben, Tönen, Gerüchen, Gefühlen, die ich finden kann, fangen die Figuren an, sich zu bewegen, sich zu spielen. Und gerade die alltäglichen und scheinbar banalen, die gemeinen Kleinigkeiten haben in der Geschichte Platz und Wert, weil sie zeigen genau im Kleinen aufs Große, Dramatische, Wahnsinnige, sie machen das Unwahrscheinliche ja sichtbar, wahr vor unseren Augen. Wie kleine Meteoriten zeugen sie doch handlich, fast handgreiflich von dem Planeten, von dem sie kommen und dem ihm eigenen System.
Erzähle ich meine Geschichte, mache ich mir meine Geschichte. Ich lasse auch geschehen. Und nicht nur: geschieht, passiert mir. Wobei auch die Geschichte, je stärker sie wird, Macht gewinnt und erfordert, mit Mut erzählt zu werden, manchmal mit heldenhaftem Mut.
Mit Schonhaltung und Vorsicht, Rücksichtnahme lassen sich die Geschichten, die es lohnen, erzählt zu werden, nicht schreiben, das Verlieren muss riskiert werden. Wie in der Liebe.
„Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf.“ Walter Benjamin. Weil gesehen werden heißt: wahrgenommen werden. Wir sagen ja auch: angesehene Leute. Wer gesehen wird, fühlt sich gestärkt. Gewinnt Kraft, auch um was zu verändern. Kann was bewirken, für sich und andere.
Im Ansehen des Erzählens wahrnehmen: das Vertraute und das Fremde. Das Kind und das große, das Frau, Mann ist, Mutter, Vater. Im Ansehen kann auch geliebt, verziehen werden. Im Erzählen kann sich auch versöhnt werden. Muss aber nicht.
So lange es Geschichten gibt, so lange gibt es noch Möglichkeiten. Peter Bichsel.
Ich erzähle. Ich mache mir eine Geschichte. Ich mache mir einen Raum. Erfahrungsraum, Wohnraum, Lebensraum. Ich bin mein/e Erzähler/in.
- Poetologisches Konzept zum Roman Fremde Leute
verfasst für Lesung aus dem Manuskript im Kulturzentrum Dieselstrasse
Esslingen, 9.10.1997