Poetologische Fragen 2 – Der Abstand
Der Abstand ist eine Frage der Anziehung. Der Abstand ist auch eine Frage des Stand-Punktes, des Willens und der Kraft. Wo steh ich, wie fest und wo sind die Wörter – diese Menge von greifbaren und gesuchten Wörtern, in meinem Besitz und doch vielleicht nicht, einzelne und in Scharen, Kämpfer und Krieger der Sprache unter meiner Generalität oder Lämmer unter meinem Hirtenstab, Pflänzchen in meinen behutsamen Händen.
Die Wörter sind wie ein Fischschwarm, eine flirrende Fraktion, und doch Fisch für Fisch in diesem Verbund. Oder ein Vogelschwarm, wie genau werden die Abstände gehalten, auch wenn die geflügelte Wolke sich auf- und fortschwingt in einer großen gemeinschaftlichen Bewegung.
Wie nah laß ich sie kommen, behalte ich die Außenposition, Übersicht, die erhöhte Stellung des Dirigenten. Oder gehe ich unter in der Menge, im Lärm der Musiker, rudere wild herum, im Orchestergraben . Wie bleibe ich an Deck und behalte die Ruhe und Sicherheit eines erfahrenen Kapitäns im Sturm. Aber muß man nicht auch untergehen, die Sicht verlieren, zumindest zeitweilig, sich fluten lassen, damit alle Wörtern sich herantrauen, auch die scheuen aus den unteren Regionen des Bewußtseins. Damit man sie sehen kann und festhalten: kennen wir uns? und verbinden mit den anderen, gewohnteren Hausfreunden aus den oberen Etagen. Daß sie nicht wieder verlorengehen, interessant wie sie sind.
Und jedes Wort, was bringt es mit sich mit, an Bedeutung, Stärke, Ausdrucksfähigkeit – Verbrauch kann dabeisein, hörbare Abnutzung auch. Jede Setzung heißt Entscheidung, für dieses. Und welches kann es neben sich brauchen, welches nicht. Welches arbeitet dem anderen zu und ist damit förderlich der Qualität des Textes. Welches gefällt mir zwar (Darlings! der dichterischen Eitelkeit) und besonders, daß es mir eingefallen ist, es schwächt aber das nächste. Erschlägt neben sich erst mal einige. Flurschaden. Ein gutes, ruhiges Wort kann sich auslegen, zeigen. Bring ich gleich dazu ein wildes, (vor)lautes heran, ein aufdringliches, hier! hier! schreiend, dann stört das und läßt in seiner Grelle das andere blaß erscheinen – das es nicht ist, lieferte man es nicht dem Neonlicht aus.
Die Wörter haben kleine Kleider an, sommerliche oder festliche, manche sind in Anzügen, recht amtlich, in Workerhosen, Blaumänner, manche haben ältliche Mäntel, da sind sie herauszuholen, wenn man sie in „alter Frische“ will . Andere sehen arm aus, wie geprügelt, mißbraucht. Zu oft genommen, fertig, bedeutungsleer. Einige haben dicke Rucksäcke, die brauchen besonders Platz, sonst rempeln sie sich gleich an, streiten um das Recht auf Rückenfreiheit. Ich wähle die Spieler aus, die „Mannschaft“, ein paar auf die Ersatzbank, für alle Fälle, und dann los.
Wenn ich sie habe, die Auswahl, im Griff, im Kopf, leicht festgehalten auf einem Blatt, eingegeben in die Maschine, wie setze ich sie, in welchen Abständen und Reihen. Nah genug sollten sie stehen, um sich anzuregen, kleine Ströme weiterzugeben, Verbindungen einzugehen. Wie Bilder, ausgestellt im Spannungsfeld einer Wand, großer Räume der Kunsthäuser. Weit genug, um Platz zu haben, Raum für ihre Bedeutungen, Konnotationen und! die Lesart der Leser. Es sind doch meine Worte, die sie lesen und aber ihre auch. Die sie von mir nehmen, ablesen. Auf ihre Art. Sind wir doch gemeinsame Besitzer?, „Praxis-gemeinschaften“, wenn auch mit divergierenden Verhältnissen zu diesen Untergebenen? Knechten unter unserer mündlichen und schriftlichen Herrschaft? Sind es Haustiere, Schoßtiere? Sklaven? Freunde? Transporteure? Das kann sich unterscheiden, da braucht es Platz für unterschiedliche Beziehungen, Bedürfnisse, auf jeden Fall genug Leerstellen, Rangierflächen:
pflanzdichte
wenn ich nur wenige
wörter nehme
kann in dem platz
den ich lasse noch
wachsen was will
Und die wenigen sollten die ausreichenden sein, keins zuviel, nicht ein Wort, das an der Stelle nicht notwendig hin müßte. Ach, das eine oder andere, weniger wichtig, liest man drüber, das liest sich weg, könnte man meinen. Aber es stört, jedes, das „keinen Sinn macht“, Aufgabe hat, Funktion, das fehlen oder bleiben könnte – kann nicht bleiben. Es stört den Text, das Gedicht. Es nimmt den Raum, in dem es „überflüssig“ steht. Den die anderen Wörter des Textes brauchen. Gottfried Benn sagte: bei einem gut laufendem Motor ist kein Teil zu viel. – Werk braucht kein Beiwerk. Wo Dekoration hinpaßt, hat Substanz gefehlt.
Die Leerstellen stellen / / zur Verfügung, geben Luft, lassen Lücke und ihre Füllung zu. Der Fluß so wichtig wie die Furt. Die Besetzung so wichtig wie die Freilassung. Die Kunst der Pause, sagt man. Raumfragen, Feldberechnungen. Abstände sind: Möglichkeiten der Ausdehnung und Anziehung, Straffung und Verknappung, Enge und Weite, Fragen der Rhythmik und Geschwindigkeit eines Textes. Findet er seine Form, sein GleichGewicht, seine Ordnung? in Schwarz und Weiß.
Die Leerstelle (eine Theorie, germanistisch von Wolfgang Iser in den 70ern aufgestellt, längst ein Klassiker): ihre unbedingte Wichtigkeit für das Gelingen jedes Textes und auch des Liebesakts des Lesens. Für die Freiheit der Wörter! nur im Freiraum kann kopuliert werden. Der Leser entfaltet den gebundenen Text des Autors – die Leerstellen sind die Pforten, Zugänge – und so erst dann (s)eine wirkliche Wirkung. In Romanen fand Iser freie Flächen, wo verschiedene Erzählperspektiven, Erzählhaltungen oder Erzählstränge sich gegenüberstehen:
„Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinanderstoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen.“ (Iser: Der Akt des Lesens, S. 302) Der Leser sorgt für die Beziehungen der einzelnen Segmente, indem er die Bezüge herstellt, seine – er verfertigt den Text beim Lesen.
Der Abstand ist die Entfernung und die Nähe. Der Abstand ist das AufHalten der Annäherung als Möglichkeit und das AnHalten der Versuchung der Vereinigung. Jeder kleine Abstand ist immer noch die gelassene Länge, der kürzestmöglichen Verbindung. Ent-fernen heißt doch, genaugenommen, sich nähern, nahekommen. Das sanfte Ziehen bis zum saugenden Sog soll ausgehalten sein.
der
harte abstand
hält die steine
zusammen
Ein schroffer Verbund, ein zärtliches Schürfen, eine schwere Last, doch keiner kann gehen. Blut ist dicker als Wasser. Heißt es nicht so über die arteriellen Stahlstränge, die zusammen-spannen, was man sachlich Familienmitglieder nennt. Verwandte, Verbandte. Aus Vereinen kann man austreten. Und gilt nicht die Frage des Abstands als eine auch wichtige für Liebesleute? (für „Leute“ gibts keine Einzahl) Sollte hier der ausreichende Abstand, laut Partnerberatung, nicht für andauernde Anziehung sorgen? so gut wie garantiert, ja fast lebenslang. In Anfangszeiten von Paaren gelten dagegen symbiotisch-spastische Verklammerungen, Beziehungs(de)formationen als normal, phasentypisch, früh-bis-spätromantische Verschmelzungswünsche, Erscheinungsphantasien von vereinigten Lichtgestalten, idealisierte Ausnahme-Konstellationen, astrale Füreinander-Bestimmungen, am schönsten die halluzinierte Vereinheitlichung von Denken und Fühlen „wie du!“:
wirzwei
ichundu
duunich
ichundu
duunich
ichundu
duunich
ichundu
duunich
ichundu
duunich
ichundu
duunich
ichundu
duunich
unnu ?
Bis hin zu habgierigen, aussaugerischen Personenbesetzungen, eifersüchtigen Verfolgungen usw. tollwütiges Festbeißen am vermeintlich geliebten Objekt … obsessive, wahnhafte Verlaufsformen. Man kennt das. Gesund soll sein, wenn nach Phase 1 des Verlaufs 2 kommt, das Erkennen wieder von eigenen Strukturen führt zu Abgrenzungen, erneuten Ich-Setzungen. Freundliche Grenz-beziehungen in Folge. („offener Grenzverkehr“ – ein Kalauer aus dem Büchlein: La Dogana. Grenzenlose Zollwitze. Verlag Schranken, Lüneburg 1986).
Und große Abstände kann es in dem Genre „Zusammensein“ auch geben. Einzelgänger leben von der Einhaltung des Abstandes (auch in der Beziehung, Ehe).
die schwermut hat der stein im blut
Die Schwermut – das kann schon mal leicht hingesetzt werden, ein Wort, ein Begriff, medizinisch, psychiatrisch, literarisch und redet man nicht so ganz normal über das Dunkle, Kranke, das bis in tiefstes Elend gehen kann? Gibt es nicht Depressive wie trockener Sand am Meer der Freude und Lebenslust. Aber dann übernimmt ein anderer Pulsschlag das Tempo, der Stein ist ein langsames Tier, seiner Natur gemäß der Rhythmus, und der ist hart und schwer, Stiefelschritte, mit Kloben an den Füßen ist kein Spitzentanz. Da ist nichts Verbindliches mehr, keine Nähe, Wärme des Sitznachbarns im Theater, spürbar am Arm. Kaltblüter zeichnen sich nicht nur bei Pferden durch hohes Körpergewicht und ein ruhiges Temperament aus, wie es nett formuliert wird (bei Pferden). Auch auf Steine trifft das zu.
(Nur nebenbei: braucht Blut immer Haut, das Weiß des Blattes, freie Strecke zum Fließen, Hervorschießen oder Spritzen.)
Nicht zu vergessen: die Leerzeile. Die Auslassung, Einschuß von Luft, Zwischenraum, die Spannung des Fadens in der Geschichte, wenn sie kurz anhält, auf dem Absatz. Ein langer Moment, ein Zögern, der halbe Schritt. Der Abstand.
Spiel mir das Lied …
es gibt nur wenige Männer
die sich erlauben könnten
zu mir: „koch Kaffee!“ zu sagen
streng genommen keiner
Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa [1970].
In: Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. 3. Auflage, Fink, München 1988.
Wolfgang Iser: Der implizite Leser
Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens